Neu Geboren

5-8 mins (1485 Wörter)

Switch to English

Wie kann das geschehen? Die Frage klingt unbeholfen. Doch sie kommt aus dem Mund eines „Lehrers der Lehrer“Joh 3:10, ein hochstudierter, ein weit in den Schriften seiner Zeit vertiefter. Nikodemus, so heißt der Fragende, ist ein Vorbild für mich und hoffentlich uns alle – denn nicht häufig wird die Antwort einer einfachen Frage durch den Verlauf der Geschichte irgendwie Teil meiner Lebensgrundlage. Und im Augenzwinkern der heiligen Literatur ist der Antwortgebende kein geringerer als die Antwort selbstJoh 14:6.

Urteile aus der Distanz

Aber zurück zum Anfang. Hier ist ein Schriftgelehrter, ein Pharisäer, der Jesus für eine geheime Besprechung trifftJoh 3:2. Der Einblick in Johannes 3:1-12 ist wohl die erste von wenigen privaten Sprechstunden von diesem angeblich Mensch gewordenen GottJoh 1:14; 3:16-17; 6:38, und wer von beiden sich vor wem genau versteckt ist da auch erstmal egal.

Die Pharisäer-Kollegen betonen bei diesem Jesus vor allem das „von Nazareth“Joh 18:5; 1:45, um schon im sprachlichen Gebrauch ganz klar zu entscheiden, dass dieser Mensch wohl kaum von Gott oder gar Er selbst sein kannEx 33:20; Num 23:19; Hos 11:9; Dtn 4:15; Joh 7:40-44; 7:52; 19:7. Zu anstößig sind seine RedenLk 11:45; Joh 6:60; 6:52-59, zu sündig seine FreundeLk 5:30-31, und seine Wunder finden scheinbar immer an dem einen Wochentag statt, an dem Gott wohl niemals heilen würdeJoh 9:16; Lk 6:6-7; 13:13-15. Nikodemus aber hat ein anderes Urteil aus gleicher Distanz gefunden: Niemand kann solche Wunder tunJoh 3:2 sagt er zum langsam immer bekannteren Wundertäter Jesus. Niemand, wenn nicht Gott mit ihm ist.

Der Antwort-Suchende beginnt direkt mit einer unglaublichen Erklärung. Lang bevor die brennende Botschaft von Zeichen und Wundern, und noch länger bevor die unaufhaltbaren Nachrichten über diesen Mann, der den Tod besiegt hat, Judäa und die Welt überrollen, lang vorher ist hier ein Gebildeter, der mit leichter Vorahnung kommt, um zu fragen. Ein hoher Lehrer, der – so jedenfalls meine Mutmaßung – diese Ahnung tief in sich nicht abschütteln kann.

Antwort ohne Frage

Doch bevor der Lehrer den ersten Punkt seiner sicherlich sorgfältig vorbereiteten Fragen zu stellen vermag, bekommt er eine Antwort. Ungewöhnlich, sicher nicht nur für Nikodemus. Für Jesus aber scheint das schon ein beliebtes Hobby zu sein, insbesondere den tief im Denken verankerten Pharisäern beantwortet er scheinbar mit Vorliebe die ungefragten FragenLk 5:20-25; 6:7-8; 20:23-26.

Jesus stimmt ihm zu, an Falschaussage lag es also nicht. Doch die Antwort ist eins dieser Zitate, die ganz schlau klingen und doch eigentlich keine Aussage bringen. Wer nicht von neuem geboren wird, kann das Reich Gottes nicht sehen.Joh 3:3 Aha. Und aha denkt auch Nikodemus und stellt die erste Nachfrage.

Ja, hier ist ein klassisches Missverständnis am Werk. Kurzgefasst, auch damals hatten manche Wörter mehrere Bedeutungen. Jesus erklärt das missverstandene Wort und erläutert nun nochmals ganz einfach: wer nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann nicht in das Reich Gottes gelangenJoh 3:5. Ein kleiner Umbau im Zitat, und schon ist klar, dass nicht eine zweite natürliche Geburt, sondern die Geburt von oben gemeint war. Und damit ist auch wirklich alles klar.

Nikodemus, an dieser Stelle schon mein persönlicher Held, denkt sich erneut aha und fragt nochmals wie kann das geschehen?Joh 3:9 Danke für’s Fragen, Nikodemus.

Und während sich Nikodemus auf den Seiten meiner Bibel eine kleine Schelte von Jesus anhören muss, dass er als der Lehrer Israels doch nun wirklich diese einfach Sache verstehen müssteJoh 3:10-12, blättere ich entspannt die Seite weiter und denke recht still ja, aber wie soll das geschehen? Der allwissende Gott ist scheinbar auch für mich nicht der beste Erklärer.

Demütige Fragen

Wer nicht fragt, bleibt dumm. So heißt es jedenfalls in der Sesamstraße. Und während für viele heutige Leser Nikodemus einer von vielen dieser Pharisäer ist, vor deren heuchlerischen Glauben Jesus mit drastischen Worten warnteLk 20:46-47; 11:39-44, ist er eben auch derjenige, dessen privates Gespräch zur Goldmine der Theologie geworden ist. Ganz nebensächlich findet sich ja auch hier der Favorit des modernen Publikums: so sehr hat Gott die Welt geliebt …

Nikodemus hat eine Demut gezeigt, die mir zum Vorbild wird. Jesus hatte offenbar kein Problem mit einem Schriftgelehrten, der zu ihm kam, um Antworten zu finden. Jesus hat kein Problem mit denen von uns, die Fragen bringen, selbst Zweifel bereiten Ihm keine Sorgen. Nur eins sollte ich besser nicht sein: der so toll gebildete Lehrer, der so häufig Antworten gibt und doch die Antwort in Person verpasst.

Fraglich ist, wie vielen anderen Lehrern und Laien Jesus die gleichen Worte gesagt hat – wer nicht von oben geboren ist. Traurig wäre es jedenfalls, hätten die vielen anderen Gespräche ihre Aufnahme in die Bücher der Geschichte verpasst, nur weil alle anderen für ihren Ruf Wissen vorgaben, statt in Demut zu fragen.

Und so sind wir modernen Christen hier und verweisen auf diese zunächst nichts-sagenden Verse immer dann, wenn wir über die hier abgeleitete Phrase reden: Neu Geboren. Und wenn sich ein Neuling die Frage nach der Bedeutung erlaubt, dann kommt wie eingeübt die Antwort aus den gleichen Versen: Also man wird durch den Geist neue Schöpfung und echte Christen sind halt neu geboren. Aha. Es ist schon lustig, dass wir Christen so freizügig eine Floskel umherwerfen, zu der ein höchster Lehrer aus Jesus' Zeiten nur sagte bitte was?

Der Vergessene Halbsatz

Aber was, wenn das gar nicht der Punkt ist. Also neu geboren hin oder her, der Satz ist doch noch nicht vorbei. In das Reich Gottes gelangen, so geht es zu Ende. Gottes Reich, das ist dort wo Gott regiert auf Erden, von diesem Reich sprach dessen König es ist gleich hier, es steht vor dir daMt 3:2; Joh 4:26; Lk 17:20-21. Als Lieblingsthema von Jesus gäbe es noch viel zu sagen, aber kurzum: Gottes Reich ist der Grund warum er kamDan 2:44; Mt 4:17; Jes 9:6-7.

Doch wie kann das geschehen? Das ist die natürliche Frage, denn ohne Zweifel sind wir in Sünden und Fehlern GeborenePs 51:7, bezeichnet als Kinder des SatanJoh 8:44; 1 Joh 3:8. Und dann sollen wir plötzlich Könige und PriesterOff 1:6 sein, angeblich Botschafter2 Kor 5:20 seines Reiches. Plötzlich spricht die Bibel davon, dass wir Söhne und Töchter GottesGal 3:26; Röm 8:14-15 sind und das sogar als ErbenRöm 8:17.

Erbe bedeutet für uns eine Menge Dinge, zumeist vor allem Geld. Für die beiden Juden in diesem Privatgespräch ergibt sich aber ein anderes Bild. In ihrer Welt erbt nur ein Sohn vom Vater, niemand sonst kommt in Frage. Nun gut, wir sind nun Kinder Gottes durch Adoption, so vergleicht es später PaulusEph 1:5, und schon erben wir ganz normal mit. Doch während Paulus ebenfalls mit der Unmöglichkeit der Sache ringt und für sein Publikum auf die römischen Gesetze zur Adoption anspielt, sind die Regeln der Juden etwas anders: Adoption gibt es nicht, allein die richtige Familie zählt. Und Familie, so wissen wir doch eigentlich alle, kann man sich nicht aussuchen.

Für Jesus und Nikodemus ist wohl vollkommen klar, dass ein Erbe Gottes auch wirklich von Gott geboren sein muss. Die Frage der Fragen ist nur, wie in aller Welt ein in die sündige Familie dieser Welt Geborener nun je zur Familie von Gottes Reich gezählt werden könnte. Die Trennung der Familien ist unendlich weit – Himmel und Erde. Offizielle Urkunden bringen da nichts, der Vaterschaftstest prüft übereinstimmende DNA. Neu Geboren – das wäre notwendig und ist doch so absurd, mit dem noch verrückteren Ergebnis Himmel auf Erden.

Für Nikodemus wurde später sicher vieles klarer. Es ist der Heilige Geist, der diese neue Schöpfung hervorbringt2 Kor 5:17; Gal 2:20; Röm 8:2: 8:16; Joh 20:22, Schöpfung, die kommt und doch schon geschieht. In Gottes Reich wohnen nur die königlichen Familienmitglieder – und wenn Er uns seine Kinder nennt1 Joh 4:1, dann ist sein Reich auch schon da. Mitten in der Unmöglichkeit des Familienwechsels sagt die Antwort selbst: bei Gott ist nichts unmöglichMt 19:25–26.

Beantwortet das alle Fragen? Sicher nicht. Vielleicht ist es genau in dieser Spannung des unmöglich Paradoxen, dass uns die Liebe von Jesus tief erfasst. Vielleicht war die Frage von Nikodemus kein mangelndes Verständnis, sondern das demütige Bekenntnis der Schuld seines Herzens. Vielleicht schaust auch du auf das Werk von Jesus in deinem Leben und kannst nur fragen wie konnte das geschehen?


Bibelreferenzen

  • Exodus 33:20
  • Numeri 23:19
  • Deuteronomium 4:15
  • Psalmen 51:7
  • Jesaja 9:6-7
  • Daniel 2:44
  • Hosea 11:9
  • Matthäus 3:2; 4:17; 19:25–26
  • Lukus 5:20-25; 5:30-31; 6:6-8; 11:39-45; 13:13-15; 17:20-21; 20:23-26; 20:46-47
  • Johannes 1:14; 1:45; 3:1-12; 3:2-3; 3:16-17; 4:26; 6:38; 6:52-60; 7:40-44; 7:52; 8:44; 9:16; 14:6; 18:5; 19:7; 20:22
  • Römer 8:2: 8:16; 8:14-15; 8:17
  • 2 Korinther 5:17; 5:20
  • Galater 2:20; 3:26
  • Epheser 1:5
  • 1 Johannes 3:8; 4:1
  • Offenbarung 1:6